Semaglutid als leistungsrechtliche Behandlungsalternative zur bariatrischen Chirurgie?
Lässt sich die Arzneimitteltherapie mit Semaglutid leistungsrechtlich der bariatrischen Chirurgie als Behandlungsalternative entgegenhalten? Dieser Frage gehen wir in diesem Beitrag nach, der eine gegenwärtig unübersehbaren Trend in der medizinischen Diskussion aufgreift. Nicht zuletzt die Berichte um Elon Musk haben dazu geführt, dass das als Ozempic® vertriebene Arzneimittel Semaglutid einen echten Hype erfährt. Es ist sogar zu Lieferengpässen gekommen. Dies hat dazu geführt, dass Apotheken das Medikament gegenwärtig nicht auf Arztausweis und nur mit Angabe der zugelassenen Indikation auf dem Rezept abgeben sollen.
Ob dies so zulässig ist, lassen wir an dieser Stelle dahinstehen, auch wenn gewisse Zweifel daran bestehen: Denn auch ein Off-Label-Use gehört grundsätzlich zu ärztlichen Handlungsoptionen. Wir fokussieren den Beitrag darauf, ob die Behandlung mit Semaglutid im Rahmen eines Abrechnungsstreits einer bariatrischen Operation als vorrangige Behandlungsalternative entgegengehalten werden kann. Hierfür spricht viel.
Klarzustellen ist: Dieser Beitrag stellt keine Empfehlung für den Einsatz von Semaglutid im Einzelfall dar. Dies obliegt allein der ärztlichen Indikationsstellung und Verordnung. Der Gegenstand des Beitrages ist allein die Frage, welchen Stellenwert Semaglutid im Gefüge des Leistungsrechts der Gesetzlichen Krankenversicherung einnehmen könnte, insbesondere in Relation zur bariatrischen Chirurgie. Er stellt keine Empfehlung, Bewertung oder Beratung hinsichtlich des Arzmeittels selbst dar.
Bundessozialgericht zur bariatrischen Chirurgie: keine strenge „ultima ratio“ mehr, aber Erörterung des Für und Wider mit allen Abwägungsgesichtspunkten
Im Rahmen von Rechtsstreiten zur stationären Abrechnung von bariatrischen Operationen lässt sich vielfach über Behandlungsalternativen diskutieren. Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 22.6.2022, B 1 KR 19/21 R, seine Rechtsprechung dahingehend modifziert, dass es zwar in der Regel kein strenges Ausschöpfen aller Behandlungsalternativen mehr verlangt. Es versteht die „ultima ratio“ nunmehr so, dass der Weg eines gesicherten Nutzens gegangen werden muss. Hierbei muss die Abwägung der für und gegen die Operation sprechenden Aspekte Teil der Patientenaufklärung sein. Denn nur so ist sichergestellt, dass der Patient dem Eingriff in ein gesundes Organ in Kenntnis aler Umstände informiert einwilligt.
Die aktuelle Rechtslage lässt dabei vielfach weiterhin großen Raum für Diskussionen. Zwar betonen Chirurgen vielfach die Effektivität der Adipositaschirurgie. Aus unseren Verfahren kennen wir die chirurgisch geprägte Sichtweise, die die Operation fast immer für alternativlos hält. Im Lichte des § 12 SGB V kann jedoch dieser Umstand allein nicht durchgreifen. Die maximal-effektive Behandlung ist nicht schon wegen ihrer großen Effektivität zulasten der Krankenkassen geschuldet, zumal auch in seriösen Reviews (z.B. von Colquitt bei der Cochrane Library) das Fehlen langfristiger Studien kritisiert wird. Ferner bestehen durchaus beachtliche Risiken, beispielsweise auch eine erhöhte Suizidrate (vgl. Deutsches Ärzteblatt [2015]) oder die Verschärfung psychiatrischer Störungen (vgl. Deutsches Ärzteblatt [2019]) nach bariatrischen Operationen. Daher wird auch im allgemeinmedizinischen Schrifttum der „Hype“ um die bariatrische Chirurgie kritisch gesehen (vgl. etwa Duran/Sönnichsen [2019]).
Behandlungsalternativen zur Adipositaschirurgie
Schon in der Leitlinienempfehlung gibt es daher ein „Sondervotum“ der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (S. 68 der Leitlinie). Eine qualifizierte, ärztliche begleitete Ernährungstherapie kann verbunden mit weiteren konservativen Maßnahmen einen gewichtsreduzierenden Effekt bewirken. Gemeint ist hier keine bloße Ernährungsberatung, die vielfach fast als Formalismus im Vorfeld von bariatrischen Operationen durchgeführt wird. Es kommt auf eine ernsthafte ärztliche Behandlung mit entsprechender Compliance der Versicherten an. Nur am Rande sei erwähnt, dass eine dauerhafte Ernährungsumstellung auch nach einer bariatrischen Operation zwingend erforderlich ist. Weitere Maßnahmen bleiben weiterhin Aktivität und Bewegung.
In den letzten Monaten eröffnet sich jedoch eine weitere Behandlungsalternative: Die medikamentöse Behandlung der Adipositas mit dem Wirkstoff Semaglutid. Das Arzneimittel ist in der EU als Ozempic® zur Behandlung des Diabetes mellitus und als Wegovy® zur Behandlung der Adipositas zugelassen. Gegenwärtig herrscht jedoch eine Knappheit auf dem Markt: Ozempic® soll vielfach ausverkauft sein; Wegowy® ist aktuell noch nicht auf dem deutschen Markt erhältlich.
Semaglutid zeigte in Studien erhebliche gewichtsreduzierende Effekte, so dass zahlreiche Prominente mittlerweile die Optimierung ihres Erscheinungsbildes mit dem Mittel betreiben. Der Effekt soll an die Resultate der bariatrischen Chirurgie heranreichen. Das Vorliegen der Zulassung für Wegowy® und ggf. der Off-Label-Use für Ozempic® zeigen jedoch, dass der Einsatz gegen die Adipositas im Rahmen einer ärztlichen Behandlung grundsätzlich möglich ist. Auch der bekannte Ernährungsmediziner Dr. Matthias Riedl betont in seinem Podcast, dass das Mittel gerade in Verbindung mit einer Ernährungstherapie eine Chance eröffnet, nachhaltig an Gewicht zu verlieren.
Semaglutid als sozialmedizinisch-leistungsrechtliche Alternative zur Adipositaschirurgie
Damit dürfte zwischen die herkömmlichen konservativen Therapien (v.a. Ernährungs- und Verhaltenstherapie sowie Bewegungstherapien) nun auch eine Arzneimitteltherapie als Behandlungsalternative hinzutreten, die in vielen Fällen die bariatrische Chirurgie in Frage stellen wird. Darauf weist auch Dr. Matthias Riedl in seinem Podcast zutreffend hin (Dr. Matthias Riedl, Podcast „So geht gesunde Ernährung“, Folge 20: Folge 20: Was die Spritze zum Abnehmen bringt). Leistungsrechtlich bedeutet dies, dass eine arzneimittelunterstützte Ernährungs- und Verhaltenstherapie, die Semaglutid als Adjuvans begreift, wie es Dr. Riedl ausdrückt, eine vorrangige Behandlungsalternative mit hochgradig gesichertem Nutzen darstellten könnte. Semaglutid wird daher nicht nur in der Medizin als „Game Changer“ gehandelt, sondern verringert aus leistungsrechtlich-sozialmedizinischer Sicht den Indikationsbereich der Adipositaschirurgie. Denn der „Mehrwert“ der Operation gegenüber einer mit der Arzneimitteltherapie mit Semaglutid kombinierten Ernährungs-/Verhaltenstherapie erscheint nicht mehr groß, wenn er überhaupt vorhanden ist. Demgegenüber bleiben die Risiken der Operation mit teilweise irreversibler Änderung am gesunden Verdauungssystem.
Ozempic® ist ein modernes Diabetesmittel. Der Umstand, dass der Patient bereits adipositasassoziiert einen Diabetes entwickelt hat, dürfte die Behandlung mit Ozempic® im zugelassenen Anwendungsbereich ermöglichen. Gerade bei diesen Patienten stellt Semaglutid daher eine interessante Behandlungsalternative dar. Denn sie kann den Stoffwechsel stabilisieren und einen Gewichtsverlust bewirken. Damit entfällt ein bislang zugunsten der Adipositasoperation angeführtes Argument.
Kritische Rezeption der Entwicklungen um Semaglutid
In der Medizin wird Semaglutid offenbar überwiegend positiv aufgenommen, auch hinsichtlich des Einsatzes zur Behandlung der morbiden Adipositas. Andererseits weisen Fachgesellschaften und Ärzte auch auf die Risiken, die bislang unklare Langzeit-Evidenzlage und die Verknappung des Mittels für Diabetiker hin. Weiterführende Informationen finden sich etwa hier:
Ausgewählte Beiträge für weiterführende Informationen
- Podcast: Grams‘ Sprechstunde – Der Podcast für echt gute Medizin, Folge: „Ozempic: Wundermittel oder Gefahr?“: Diskutiert werden hier auch Nebenwirkungen sowie die gegenwärtige Knappheit des Arzneimittels und ethische Implikationen, insbesondere zu den Folgen für Patienten, die das Mittel im Rahmen der Diabetes-Behandlung benötigen. Dr. Natalie Grams im Gespräch mit Professor Dr. Harald Schneider.
- Podcast: Dr. Matthias Riedl, So geht gesunde Ernährung, Folge 20: Was die Spritze zum Abnehmen bringt: Diskutiert wird u.a. der mögliche Nutzen des Arzneimittels im ernährungsmedizinischen Kontext.
- Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie fasst in einer Pressemitteilung den Trend zur Gewichtsabnahme mit Semaglutid hin, äußert sich hinsichtlich der Verknappung des Mittels für Diabetiker kritisch und weist auf die Nebenwirkungen (wie Übelkeit, Erbrechen, Bauchspeicheldrüsenerkrankungen), die Entstehung bestimmter Krebsarten in Tierversuchen und fehlende Kenntnisse zu Langzeitwirkungen hin.
- Phil Göbel, „Spritze rein, dünner sein – Der gefährliche Hype um das “Diät-Wundermittel‘ Ozempic“, Stern online, 25.4.2023: Der Artikel fasst die aktuellen Entwicklungen um Semaglutid umfassend zusammen, verweist auf mögliche Nebenwirkungen und Risiken sowie die Verknappung des Medikaments für Diabetiker. Der Beitrag bezieht sich auf Äußerungen von Professor Dr. Harald Schneider.
- Deutschlandfunk, „Diabetes-Medikament Ozempic, Die Risiken der Abnehmspritze“ (4.6.2023): Kritischer Beitrag zum möglichen Nutzen und zu Risiken der Anwendung von Semaglutid. Auch hier werden die Engpässe in der Diabetes-Behandlung angesprochen sowie auf Risiken, hohe Kosten und die Notwendigkeit der Langzeit-Anwendung hingewiesen. Ferner auch: Deutschlandfunk, „Ozempic statt Diät: Wo ist der Haken bei der Abnehmspritze?“ (4.6.2023).
- Podcast: Das Gehirn und der Finger, Folge: „Der Hype um Ozempic“ (2023): Der Beitrag weist ebenso auf die unterschiedlichen Implikationen hin, sieht im Ergebnis ein durchaus großes Potential für die Anwendung.
Fazit: Kein Nutzen ohne Risiko
Es zeigt sich (wie so oft): Auch die Behandlung im Semaglutid ist eine Medaille mit zwei Seiten. Das ist die bariatrische Chirugie jedoch auch. Jede ärztliche Indikation stellt eine Abwägung von Nutzen und Risiko dar. Im Zweifel geht die Behandlung mit einem Arzneimittel jedoch nicht mit einem ggf. irreversiblen Eingriff in einen gesunden Verdauungstrakt einher. Bei aller Vorsicht wird sich daher in der Zukunft in einigen Fällen die Frage stellen, ob die Behandlung mit Semaglutid als weniger invasive Maßnahme im leistungsrechtlichen Kontext vorrangig gegenüber der bariatrischen Operation ist. Dies betrifft insbesondere bei Patienten, die bereits adipositasassoziierte Folgeerkrankungen aufweisen: Hierzu gehört vielfach der Diabetes mellitus, für dessen Behandlung Ozempic® bereits zugelassen ist.
Aber auch die Zulassung von Wegowy® zur Behandlung der morbiden Adipositas zeigt den Weg dazu auf, dass bei fehlendem Erfolg einer isolierten Ernährungstherapie eine Lücke zwischen konservativer und chirurgischer Therapie geschlossen worden sein könnte. Die oben genannten medizinischen Äußerungen zeigen jedoch: Auch mit Semaglutid dürfte man an einer Ernährungsumstellung nicht vorbeikommen. Dies gilt für eine bariatrische Operation jedoch gleichermaßen.
Weitere Entwicklung zum leistungsrechtlich-sozialmedizinischen Stellenwert von Semaglutid bleibt abzuwarten
Als Anwälte, die Krankenkassen in Rechtsstreiten um Krankenhausabrechnungen vertreten, verfolgen wir daher mit großem Interese die medizinische Entwicklung und ihre Auswirkung auf die Begutachtungen durch die Medizinischen Dienste. Selbst wenn eine bariatrische Operation medizinisch vertretbar ist, wird die Möglichkeit einer hoch effektiven medikamentösen Behandlung ein starkes Argument gegen einen teilweise irreversiblen Eingriff in ein gesundes Organsystem sein. Im Sinne des § 12 SGB V wäre eine solche Operation dann nicht notwendig, denn es ließe sich eine konservative, nicht-invasive Behandlungsmöglichkeit entgegenhalten.
Gegenwärtig bleibt offen, ob Semaglutid dauerhaft gespritzt werden muss oder ob eine erfolgreiche Ernährungs- und Verhaltenstherapie ein Absetzen der Spritzen ermöglicht. Angesichts der Adipositas-Epidemie stimmt es jedoch optimistisch, dass die Behandlung mit Semaglutid die Möglichkeit eröffnet, evidenzbasiert erheblich an Gewicht zu verlieren, den Stoffwechsel zu verbessern und eine bariatrische Operation zu vermeiden. Offen bleibt aktuell, wann und zu welchem Preis das zugelassene Wegowy® verfügbar sein wird. Bis dahin werden die auch medizinethisch geprägten Diskussionen um den Einsatz von Ozempic® im Off-Label-Use sicher weitergehen.
Es spricht im Moment viel dafür, dass die Behandlung mit Semaglutid (verbunden mit einer Ernährungstherapie) eine Lücke zwischen der bisherigen konservativen Therapie und der invasiven Chirurgie darstellen kann. Unklar ist im Moment jedoch die wirtschaftliche Betrachtung der Behandlung mit Semaglutid. Auch diese Frage kann die leistungsrechtliche Abwägung beeinflussen.