Kodierungsproblem: Prärenales Nierenversagen bei Exsikkose vielfach nicht unter N17 zu kodieren
Als Kanzlei für Medizinrecht befassen wir uns im Rahmen von Abrechnungsauseinandersetzungen u.a. mit Kodierfragen. Hier ist es von besonderem Vorteil, dass Rechtsanwalt Dr. Sebastian Krahnert zugleich Arzt ist. So ist es leicht möglich, medizinische Hintergründe zu erfassen und Probleme zu erkennen. Eines dieser Probleme ist die richtige Kodierung des sogenannten prärenalen Nierenversagens. Die Kodierung der Exsikkose („Austrockung“) bzw. Hypovolämie („Minderung des zirkulierenden Volumens im Blut“) als akutes Nierenversagen führt regelmäßig zu Auseinandersetzungen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen. Wir zeigen auf, warum aus unserer Sicht ein akutes Nierenversagen bei bloßer Exsikkose regelmäßig nicht gesondert zu kodieren ist.
Prärenales Nierenversagen ist als medizinischer Begriff kodifikatorisch ungenau
Das prärenale Nierenversagen ist im Sinne der Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) und der ICD-10-GM vielfach nicht als Nierenversagen im Rahmen von Haupt oder Nebendiagnosen zu kodieren. In einer grundlegenden Entscheidung hat bereits das Bundessozialgericht die Frage aufgeworfen, ob bei Beseitigung des Flüssigkeitsmangels überhaupt eine Nierenfunktionsstörung für sich genommen verbleibt.
In den meisten Fällen der Exsikkose bzw. Hypovolämie „versagt“ die Niere meist nicht, sondern arbeitet vollkommen physiologisch
Das prärenale Nierenversagen ist ein Zustand, in dem sich Parameter der Nierenfunktion durch Probleme „vor“ der Niere verschlechtern. So sinkt in der Regel die Diurese (Harnausscheidung) und Nierenwerte (Retentionsparameter) steigen an.
Im klinischen Alltag ist eine Austrockung (Exsikkose) bzw. ein Volumenmangel (Hypovolämie) die häufigste Ursache hierfür. Die laborchemischen Symptome des „Nierenversagens“ verschwinden oft vollständig, wenn der Patient eine einfache und kostengünstige Volumensubstitution erhält (Trinkmenge überwachen; ggf. Flüssigkeit infundieren).
Das Bundessozialgericht hat sich zum Begriff des „Versagens“ eines Organs im Zusammenhang mit Transplantaten geäußert:
Hingegen bedeutet Versagen nach seinem Wortlaut den Verlust der physiologischen Funktionen des transplantierten Organs als Dauerzustand. Ein vorübergehender Funktionsausfall ist hingegen nur eine Funktionsstörung. (BSG, 13.11.2012, B 1 KR 14/12 R)
Tatsächlich „versagen“ die Nieren in den meisten Fällen des prärenalen Nierenversagens gar nicht (Wortlaut!). Sie arbeiten vielmehr im Rahmen ihrer physiologischen Funktion. Die Nieren sind nicht krank. Denn sie reagieren auf Flüssigkeitsmangel durch das Zurückhalten von Wasser. Radikal ausgedrückt bewahrt sie den Organismus vor dem Tod durch Wassermangel.
BSG: Besteht ein Nierenversagen unabhängig vom Flüssigkeitsmangel?
Das Bundessozialgericht hat sich in der Vergangenheit bereits zu der problematischen Kodierfrage geäußert (Urteil vom 23.06.2015, B 1 KR 13/14 R), dies allerdings zu einer früheren Fassung der ICD-10-GM. Demnach ist das Nierenversagen nicht unter N17.- zu kodieren, wenn die Symptome des Nierenversagens nur ein Ausdruck des Wassermangels sind und unter adäquater Bewässerung wieder verschwinden. Denn in diesem Fall sind die Retentionsparameter und die reduzierte Urinausscheidung nur Zeichen des Volumenmangels. Es liegt nur ein scheinbares Nierenversagen vor.
Auch Wikipedia stellt klar, dass das prärenale Nierenversagen in Wirklichkeit vielfach selbst medizinisch kein Nierenversagen darstellt, sondern allenfalls die Vorstufe.
Grundsätzlich ist damit nach den Maßgaben der DKR (keine gesonderte Symptom-Kodierung) bei bloßem Volumenmangel kein akutes Nierenversagen im Sinne der ICD-10 N17.9 zu kodieren.
Abschnitt N17 im ICD-10-GM unterliegt ständiger Änderungen und Anpassungen
Als Ausdruck der Auseinandersetzungen um die Kodierung des prärenalen Nierenversagens bei bloßem Volumenmangel zeigt sich auch in den jährlichen Änderungen des ICD-10-GM an entsprechender Stelle. Geht man davon aus, dass der ICD-10-GM die Bedeutung des Begriffs „Nierenversagen“ definiert, auch wenn es sich tatsächlich nur um ein Symptom des Volumenmangels handelt, sind die dortigen Vorgaben zu beachten.
Hydratationszustand als Voraussetzung im ICD-10-GM 2018
Aktuell im ICD-10-GM 2018 enthält N17 das Inklusivum „Akutes prärenales Nierenversagen“. Zugleich besagt der Info-Bereich (2018):
Die o.g. Kriterien entsprechen mindestens dem Stadium 1 des akuten Nierenversagens, bei dem ein adäquater, dem klinischen Zustand angepasster Hydratationszustand zum Zeitpunkt der Messungen vorausgesetzt wird. […] Für die Anwendung der Kriterien bei Stadium 1 ist ein adäquater, dem klinischen Zustand angepasster Hydratationszustand zum Zeitpunkt der Messungen Voraussetzung, bei Stadium 2 und 3 gilt diese Voraussetzung nicht.
Insoweit setzt der ICD-10-GM 2018 jedenfalls für das Stadium 1 des Nierenversagens einen adäquaten Hydratationszustand voraus. Warum bei den Stadien 2 und 3 kein angemessener Hydratationszustand erforderlich sein soll, leuchtet jedoch nicht unmittelbar ein. Offenbar handelt es sich um einen Kompromiss. Aber auch mit einer Begrenzung auf Stadium 1 dürfte eine Vielzahl der alltäglichen Volumenmangel-Fälle bereits nach dem Wortlaut des ICD-10-GM nicht als akutes Nierenversagen zu kodieren sein. Insgesamt haben die ICD-10-GM-Versionen über die Jahre immer wieder Anpassungen erfahren, die maßgeblich die Frage der adäquaten Hydratation betrafen.
Adäquate Flüssigkeitszufuhr im ICD-10-GM 2016 noch bei allen drei Stadien verlangt
Der ICD-10-GM 2016 verlangte noch bei allen drei Stadien des Nierenversagens einen adäquaten Hydratationszustand. Dies erfolge als Klammerzusatz. Soweit man bisweilen hört, die Klammerzusätze bezögen sich nur auf einen Teil der Anforderungen, ist dies nicht überzeugend. Bei vernünftiger Betrachtung folgt aus dem Wortlaut nicht, dass ein Klammerzusatz nur für einen Teilsatz gilt, sondern sich vielmehr auf den kompletten Text bezieht. Sowohl Diurese (Harnausscheidung) als auch Retentionsparameter (Nierenwerte) sind demnach nach diesseitiger Auffassung bei angemessener Bewässerung zu beurteilen. Für eine Differenzierung gibt es keinen Grund; auch sprachlich ist dies nicht zwingend.
Konflikt zwischen DKR und ICD-10-GM
Seit der ICD-10-GM Anforderungen an die Flüssigkeitszufuhr stellt und ausdrücklich nach Stadien differenziert, ist ein Konflikt zwischen ICD-10-GM und DKR erkennbar. Denn medizinisch bleibt das prärenale Nierenversagen bei inadäquater Bewässerung nur ein scheinbares Nierenversagen. Lässt sich allein durch Herstellung einer adäquaten Flüssigkeitszufuhr das Symptombild beheben, sind die Zeichen des Nierenversagen in Wirklichkeit nur Symptome des Volumenmangels. Auch dem Wortlaut nach „versagt“ die Niere nicht.
Auf der anderen Seite inkludiert der ICD-10-GM das prärenale Nierenversagen ausdrücklich, differenziert aber in der aktuellen Fassung den Hydratationszustand und Stadium. Legt man allein die Wertungen des ICD-10-GM zugrunde, dürfte dennoch vielfach der angepasste Bewässerungszustand maßgeblich sein.
Im Ergebnis wird daher auch in Zukunft vielfach ein Kode aus N17.- nicht zu kodieren sein, wenn die Retentionswerte und die verminderte Urinausscheidung letztlich nur Symptome des Volumenmangels sind und durch eine adäquate Bewässerung beseitigt werden.
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