Aktuelle Debatte: Aufweichung der ärztlichen Schweigepflicht?
Im Rahmen der Debatte um die Sicherheitslage in Deutschland ist gegenwärtig auch ein medizinrechtliches Thema in der Diskussion. Bundesinnenminister de Maizière soll beabsichtigen, die ärztliche Schweigepflicht zu lockern. Dadurch sollen terroristische Gefahren schneller erfasst werden. Ebenso wie Vertreter der Ärzteschaft betrachten wir dieses Vorhaben sehr kritisch. Gegen eine Lockerung – Aushöhlung? – der ärztlichen Schweigepflicht sprechen nämlich gewichtige Argumente.
Überragend wichtiges Schutzgut
Die ärztliche Schweigepflicht schützt ein überragend wichtiges Schutzgut. Der Patient soll vertrauen dürfen, dass Details aus seiner Intimsphäre das Arzt-Patienten-Verhältnis nicht verlassen. Dieses Vertrauen ist zugleich die Grundlage für das Behandlungsverhältnis. Der Arzt benötigt regelmäßig Kenntnisse aus der Intimsphäre und Sozialsphäre des Patienten, um seine Behandlung durchführen zu können. Der Patient muss das Vertrauen haben, dem Behandler diese Details anzuvertrauen. Geschützt wird hier das Grundrecht des Patienten aus Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG. Da dem Staat regelmäßig der Zugriff auf die Intimsphäre seiner Bürger verwehrt ist, muss auch die ärztliche Schweigepflicht diesen Schutz effektiv verwirklichen können. Anders mag es bei der Privatsphäre sein, die einer Abwägung eher zugänglich ist. Auch die Sozialsphäre stellt geringere Anforderungen an die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs.
Auf die Intimsphäre darf beispielsweise auch nicht bei staatlichen Überwachungsmaßnahmen der StPO zugegriffen werden. Es handelt sich um einen Kernbereich der privaten Lebensgestaltung. Der Kernbereich ist jedem staatlichen Einfluss entzogen. Wenn der Patient diesen Kernbereich an Dritte aus besonderen Verhältnissen heraus heranträgt, muss er sich auf die Vertraulichkeit verlassen dürfen. Der Staat soll gerade nicht über das Vehikel der Berufsgeheimnisträger an Informationen gelangen, die ihm nicht zustehen. Neben Ärzten sind hierbei auch Rechtsanwälte, Geistliche und andere Berufsgeheimnisträger betroffen. Wird die ärztliche Schweigepflicht ausgehöhlt, steht zu befürchten, dass auch Berufsgeheimnisträger angetastet werden.
Freilich – das Wissen über ein geplantes Tötungsdelikt ist nicht dem Kernbereich zuzuordnen (wohl aber Informationen über psychiatrische Erkrankungen!).
Es gibt gegenwärtigen einen effektiven Schutz der Vertraulichkeit der Arzt-Patienten-Beziehung. Die Schweigepflicht folgt als Nebenpflicht aus dem Behandlungsvertrag. Sie ist über das ärztliche Berufsrecht und sogar das Strafrecht abgesichert. Dies sollte auch so bleiben.
Schrittweises Aushöhlen der Rechtsstaatlichkeit zu befürchten
Gegenwärtig habe Ärzte eine Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO. Rechtsstaatlicher Zerfall kann auch schrittweise erfolgen. Sofern etwa der § 203 StGB aufgeweicht würde, der gegenwärtig das Verraten anvertrauter Privatgeheimnisse unter Strafe stellt, ist zu befürchten, dass früher oder später die Frage aufkommt, ob Ärzten nicht nur Offenbarungsrechte, sondern auch entsprechende -pflichten auferlegt bekommen, wenn sie bestimmte Gefahren sehen. Aus unserer Sicht wäre eine solche Pflicht sowohl im präventiven Bereich als auch im repressiven Bereich eine massive Beeinträchtigung der Rechtsstaatlichkeit und würde dem effektiven Grundrechtsschutz der Patienten nicht mehr gerecht.
Vertrauen gehört zu den Grundlagen einer freien, offenen Gesellschaft. Die DDR hat gezeigt, wie ein allgemeines Misstrauen eine Gesellschaft zermürbt. Dieses Vertrauen sollte einerseits erhalten bleiben, andererseits auch für diejenigen gelten, die gerade wegen der freiheitlichen Gesellschaft nach Deutschland gekommen sind. Einen Generalverdacht darf es nicht geben.
Wem vertrauen sich potentielle Täter an?
Fraglich erscheint ohnehin, wem sich potentielle Täter – es geht hier wohl um Terroristen – überhaupt anvertrauen. Selbst beim Attentäter von Ansbach wurde im Vorfeld „nur“ festgestellt, dass er suizidale Tendenzen hat. Eine derartige Lage ist zunächst eine Selbstgefährdung. Wie soll man zwischen „normalen“ suizidgefährdeten Patienten und potentiellen Terroristen abgrenzen? Die Herkunft allein wird wohl kein zulässiges Kriterium sein. Einen suizidgefährdeten Syrer automatisch zum möglichen Terroristen zu erklären, erscheint rassistisch und im Übrigen auch medizinisch und rechtlich verfehlt. Ob bei irgendeinem anderen Attentäter im Vorfeld ein Arzt die Pläne kannte, ist nicht bekannt.
Sollte aber eine ausdrückliche Aufweichung der Schweigepflicht stattfinden, steht zu befürchten, dass sich potentielle Täter ohnehin keinen Ärzten mehr anvertrauen.
Schweigepflicht gilt schon jetzt nicht absolut
Schon heute ist rechtlich anerkannt, dass die ärztliche Schweigepflicht in bestimmten Fällen durchbrochen werden darf. Hierbei gibt es etliche Fallgruppen, die sich aus unterschiedlichen Gründen rechtfertigen (vgl. Übersicht bei der Ärztekammer Berlin). Die schwierigste Fallgruppe ist der rechtfertigende Notstand nach § 34 StGB. Die Vorschrift führt zu einer Abwägungsentscheidung. Dies bedeutet zwar eine gewisse Rechtsuntersicherheit. Allerdings geht dies mit vielen Rechtsvorschriften einher, weil Gesetze ohnehin abstrakt und generell formuliert sind. Erfährt ein Arzt von einer bevorstehenden Straftat, bei der eine Vielzahl von Menschenleben gefährdet ist, dürfte der Rechtfertigungsgrund schon jetzt greifen, wenn eine entsprechende Offenbarung des Arztes Dritten gegenüber erfolgt. Die vielfache Gefährdung des Rechtsgutes Leben – also eine erhebliche Fremdgefährdung durch den Patienten – überwiegt das Geheimhaltungsinteresse deutlich.
Auch die Berufsordnungen – also das ärztliche Standesrecht – enthalten Klauseln, welche die Offenbarung ermöglichen.
Fazit: bestehende Rechtslage bietet bereits die Möglichkeit zur Durchbrechung der Schweigepflicht
Die ärztliche Schweigepflicht ist bereits jetzt so ausgestaltet, dass sie in bestimmten Situationen durchbrochen werden kann. Warum sollte es einer Gesetzesänderung bedürfen? Es steht zu befürchten, dass Gesetzesänderungen an dieser Stelle ein langsames Degradieren des Rechtsstaates bewirken. Offen ist, in welchen Fällen eine Offenbarung erlaubt sein soll. Mit der gegenwärtigen Rechtslage besteht ein Zustand, der ausnahmsweise die Offenbarung erlaubt. Der Ausnahmecharakter ist jedem Arzt bewusst. Es sollte kein Weg geebnet werden, Berufsgeheimnisträger zu freiwilligen oder sogar gezwungenen Denunzianten zu machen, die auf Verdacht ihre Patienten staatlichen Stellen melden. Die Arztpraxis ist nicht der richtige Ort für die Terrorabwehr. Nur wenn der Verdacht hinreichend konkret ist, darf bereits jetzt eine Offenbarung gegenüber Dritten nach § 34 StGB erfolgen.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Es ist interessant, dass Sie einen eher traditionellen Aspekt hier vertreten. Dahinter steht aber die Frage des Datenschutzes allgemein und der Wunsch insbesondere, und das ist das erstaunliche, von konservativen Parteien, die Privatsphäre in allen Bereichen durchdringen zu wollen. Während in den 70er und 80er Jahren Tausende sich gegen die Volkszählung wendeten, weil sie die Offenlegung ihrer Daten verhindern wollten, posten seit dem Start von Facebook Hunderttausende ihr Mittagessen und ihre Schlafgewohnheiten.
Es wird spannend sein, wie Mediziner, und in der Folge auch Rechtsanwälte, diese traditionelle Form des Datenschutzes gegen die mit Sicherheit wiederkehrende Diskussion verteidigen werden. Daher verstehe ich gut, daß Sie als Rechtsanwälte bereits bei den „Kollegen“ aktiv werden.