Bundessozialgericht: Prozessuales Akteneinsichtsrecht der Krankenkassen in Behandlungsunterlagen
Das Bundessozialgericht (BSG) hat am 19.12.2017 entschieden, dass den Krankenkassen im sozialgerichtlichen Verfahren über die Abrechnung der Vergütung stationärer Heilbehandlungen ein Akteneinsichtsrecht in die Behandlungsunterlagen zusteht (Az.: B 1 KR 19/17 R). Die Revision der beklagten Krankenkasse war erfolgreich, weil ihr die Gerichte in den Instanzen jeweils die Einsichtnahme in die Patientenakte verweigert hatten. Die genaue Urteilsbegründung liegt zum Zeitpunkt dieses Artikels noch nicht vor; wir werden diese ggf. noch ergänzen.
Landessozialgericht Baden-Württemberg wies Akteneinsichtsrecht in die Patientenakte mit eher schlichter Begründung zurück
Vorausgegangen war das Verfahren am Landessozialgericht Baden-Württemberg (Az.: L 5 KR 4875/14) und am Sozialgericht Stuttgart (Az.: S 9 KR 2387/12). Das Landessozialgericht hatte das Akteneinsichtsrecht der Krankenkassen im Prozess eher mit schlichter Begründung zurückgewiesen (Hervorhebung nur hier):
Die Beklagte kann auch nicht mit Erfolg einwenden, dass ihr Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) verletzt worden sei, weil ihr durch das SG und durch den Senat ein eigenes Einsichtsrecht in die Patientenakten der Versicherten versagt worden sei. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht vor. Da eine Zustimmungserklärung der Versicherten nicht vorliegt, ist der Beklagten Einsicht in die ärztlichen Behandlungsunterlagen ihrer Versicherten weder vom SG noch vom Senat zu gewähren. Die Beklagte macht mit dem Begehren auf eigene Akteneinsicht einen Anspruch auf Gewährung von Akteneinsicht in die als Beiakten geführten Patientenakten des Krankenhauses geltend. Hierfür normiert § 120 SGG die maßgeblichen Voraussetzungen. Jedoch steht der beklagten Krankenkasse kein Recht zu, selbst in die ärztlichen Behandlungsunterlagen Einsicht zu nehmen. Für die Prüfung der Abrechnung vor Beginn des gerichtlichen Verfahrens hat dies das BSG bereits entschieden (z.B. […]). Ein Einsichtsrecht besteht auch im gerichtlichen Verfahren nicht. Denn das nicht zustehende Recht auf Einsicht in die ärztlichen Behandlungsunterlagen kann im gerichtlichen Verfahren nicht dadurch ausgehebelt werden, dass nunmehr der Krankenkasse Einsicht in die ärztlichen Behandlungsunterlagen gewährt wird. Die Krankenkasse erhielte auf diesem Wege Informationen, die sie jedenfalls ohne Zustimmung ihres Versicherten außerhalb des gerichtlichen Verfahrens nicht erhalten dürfte. Einsicht in die ärztlichen Behandlungsunterlagen kann auch im gerichtlichen Verfahren nur der MDK erhalten, wie dies vorliegend auch erfolgte […]. Soweit sich Beklagte zuletzt eines eigenes Rechts auf Akteneinsicht unter Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 12.01.2010 (- B 2 U 28/08 R – in juris) berühmt, bedingt dies keine abweichende Beurteilung. […] Das BSG hat jedoch hiermit keine Aussage darüber getroffen, ob der Unfallversicherungsträger berechtigt ist, vom Krankenhausträger die Herausgabe von Krankenunterlagen zum Zwecke der Abrechnungsprüfung zu verlangen […]. Auch verkennt die Beklagte, dass im Bereich des Unfallversicherungsrechts keine, dem MDK vergleichbare Institution existiert, die medizinische Aspekt für die Unfallversicherungsträger überprüft. Die Entscheidung des BSG vom 12.01.2010 führt mithin nicht dazu, dass der Beklagten ein Recht auf eine eigene Einsicht zuzubilligen ist.
Zusammenfassend meinte das LSG Baden-Württemberg – mit vielen Worten, aber zu Unrecht –, dass das Akteneinsichtsrecht nicht bestehe, weil:
- Das (unstreitig) außergerichtlich nicht bestehende Akteneinsichtsrecht ansonsten umgangen würde und die Krankenkasse Informationen erhielte, die ihr nicht zustünden, und
- der MDK als Institution zur Beratung der Krankenkassen bestehe.
Akteneinsichtsrecht in die Behandlungsunterlagen ist Gebot prozessualer Fairness
Als Rechtsanwaltskanzlei, die in Sozialgerichtsverfahren zur Abrechnungsprüfung bundesweit vertritt, ist uns das Phänomen der verweigerten Akteneinsicht infolge der landessozialgerichtlichen Entscheidung vor allem an Gerichten in Baden-Württemberg begegnet. Im norddeutschen Raum wurde das Akteneinsichtsrecht in die Behandlungsunterlagen bzw. die vorgelegte Patientenakte fast immer als Selbstverständlichkeit behandelt.
Wir haben entsprechend in unseren Schriftsätzen – trotz der selbstverständlich bekannten landessozialgerichtlichen Rechtsprechung – heftig gegen die Verweigerung von Akteneinsichtsrechten argumentiert. Denn das Landessozialgericht hat sich in seiner Entscheidung ersichtlich nicht mit der grundrechtlichen Dimension auseinandergesetzt. Hierzu halten wir insbesondere folgende Argumente für maßgeblich:
Gleichsetzung von prozessualer und außerprozessualer Lage durch das Landessozialgericht Baden-Württemberg verkennt die Geltung der prozessualen Grundrechte
Es trifft zwar zu, dass außerhalb des Prozesses kein Akteneinsichtsrecht der Krankenkassen besteht, weil dort der MDK zur Prüfung des medizinischen Sachverhaltes berufen ist. Das LSG Baden-Württemberg greift aber zu kurz, wenn es nur darauf abstellt, die Krankenkassen würden prozessual etwas erlangen, worauf sie außerprozessual keinen Ansprüch hätten. Denn die Rechtslage im Prozess ist eine andere.
Die Krankenkassen sind im Prozess Grundrechtsträger der prozessualen Grundrecht – auch als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung. Dies ist in ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung anerkannt. Daher dürfen die Krankenkassen prozessual auch „etwas erlangen“, was außerprozessual nicht möglich ist. Denn es gilt eine komplett andere Rechtslage: Den Krankenkassen muss ein fairer Prozess ermöglicht werden, wozu eben die eigene Kenntnis der entscheidungserheblichen Inhalte gehört, so dass das prozessuale Verhalten darauf abgestimmt werden kann.
In Abrechnungsfällen handelt es sich hierbei eben in einer Vielzahl der Fälle um die Patientenakte.
MDK ist kein Prozessbeteiligter
Darüber hinaus hat das Landessozialgericht verkannt, dass das SGG oder das SGB V den MDK in derartigen Fällen nicht als Prozessbeteiligten vorsieht. Eine Beiladung wäre zwar denkbar. Grundsätzlich findet der Prozess jedoch(nur) im Verhältnis von Krankenhaus und Krankenkasse statt. Die Krankenkasse muss sich nicht darauf verweisen lassen, entscheidungserhebliche Inhalte durch den Filter eines Dritten zu erfahren. Der MDK ist nämlich Dritter. Er ist eine eigenständige juristische Person und unabhängig von der beteiligten Krankenkasse zu sehen.
Insoweit führte schon 2007 das Sozialgericht Duisburg (SG Duisburg, Urteil vom 22. Juni 2007, Az. S 9 KR 192/06, Rn. 21, zit. n. openjur.de) zutreffend aus:
Rechtliches Gehör ist im gerichtlichen Verfahren demjenigen zu gewähren, den die jeweilige Entscheidung bindet, also den Beteiligten. Das von der Klägerin geltend gemachte eigene Akteneinsichtsrecht ist Ausfluss des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs, der sowohl grundgesetzlich in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgt ist als auch in § 62 SGG eine spezialgesetzliche Regelung für den Bereich des Sozialrechts erfahren hat. Es stellt aus Sicht des Gerichts im gerichtlichen Verfahren ein Gebot der Waffengleichheit dar, wenn nicht nur das abrechnende Krankenhaus, sondern auch die zahlungsverpflichtete Krankenkasse Einsicht in die den streitigen Abrechnungsfragen zugrundeliegende Krankenakte hat.
BSG-Entscheidung zum Akteinsichtsrecht der Krankenkasse verdient Zustimmung
Auch wenn wir die genaue Urteilsbegründung noch nicht kennen: Die Entscheidung verdienst Zustimmung. Denn sie stärkt die Fairness im Prozess – ein grundlegendes rechtsstaatliches Prinzip, insbesondere im Rechtsstreit auf Gleichordnungsebene. Der Abrechnungsstreit ist ohnehin dadurch gekennzeichnet, dass eine Schieflage zwischen Krankenkasse und Krankenhaus besteht. Die Krankenhäuser können auf die Patientenakte, Erläuterungen der behandelnden Ärzte, die den Patienten unmittelbar erlebt haben, und ggf. sogar ihr Zeugnis im Prozess zurückgreifen.
Manche Gerichte vertiefen diese Schieflage sogar dadurch, dass die behandelnden Ärzte anstelle eines Sachverständigen als „sachverständige Zeugen“ vernehmen und hierbei keine penible Unterscheidung zulässiger Tatsachenfragen und unzulässiger Wertungsfragen vornehmen.
Vor diesem Hintergrund stellt es einen angemessenen Ausgleich dar, den Krankenkassen die Möglichkeit zu geben, im Prozess die Plausibilität des Vortrages durch Einsichtnahme in die Behandlungunterlagen selbst zu prüfen. Das Datenschutzinteresse des Versicherten ist dadurch nicht über Gebühr beeinträchtigt: Denn die Datennutzung (Patientenakte/Behandlungsunterlagen) durch die Krankenkasse ist auf die Prozessführung beschränkt. Zustimmung verdient daher auch der richtungsweisende Artikel Harks, Das prozessuale Einsichtsrecht der Krankenkassen in Patientenakten der Krankenhäuser, NZS 2013, 247.
Wir vertreten im Abrechnungsstreit bundesweit
Im Bereich der stationären Abrechnungsprüfung ist Sebastian Krahnert (Rechtsanwalt und Arzt) in unserer Kanzlei erster Ansprechpartner. Aufgrund der Abschlüsse in Medizin und Recht – der Zulassung als Rechtsanwalt und Approbation als Arzt – bearbeiten wir Streitfälle über stationäre Abrechnungen mit medizinischer Expertise, können also MDK-Gutachten, Patientenakten und sonstige Behandlungsunterlagen, Zeugenaussagen und Behandlungsverläufe verständig wahrnehmen und kritisch würdigen. Damit konnten wir in mittlerweile zahlreichen Fällen erfolgreich Prozesse für unsere Mandantschaft führen.
Gerne können Sie in Hinblick auf die Beratung und die Vertretung durch unsere Kanzlei unverbindlich Kontakt mit uns aufnehmen.