Leistungen von Krankenkassen und die Menschenwürde
Im Studium der Rechtswissenschaft wird die hohe Bedeutung der Menschenwürde untrüglich vermittelt; zugleich lernt aber auch jeder Student, dass das Berufen auf Art. 1 Abs. 1 GG in der Fallbearbeitung mit Vorsicht zu genießen ist. Der Vorwurf eines Menschenwürdeverstoßes ist gravierend, beinhaltet er doch, dass der Staat den Einzelnen zum Objekt macht, ihm gewissermaßen seine Subjektivität abspricht. Dies geht damit einher, dass Eingriffe in die Menschenwürde nicht gerechtfertigt werden können, sondern – liegen sie vor – in jedem Fall verfassungswidrig sind. Daher erregt es Aufmerksamkeit, wenn die Krankenkassen und die Menschenwürde in Konflikt stehen – eine interessante Konstellation des Medizinrechts.
Die Krankenkassen und die Menschenwürde im Leistungsrecht
Umso beachtlicher ist es, dass die Menschenwürde im Leistungsrecht der Krankenkassen immer wieder zur Geltung kommt. Geht es um die Übernahme von Behandlungen durch die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) sollte man annehmen, dass eine auf die Gesundheitsversorgung von Menschen ausgerichtete Körperschaft des öffentlichen Rechts einen so gewichtigen Grundsatz der deutschen Staatlichkeit selbst beachtet. Das dürfte auch der Regelfall sein; umso überraschender muten Ausnahmen an:
Ausgangspunkt: Nikolaus-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Im sogenannten „Nikolaus-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 entschied das Gericht, dass unter bestimmten Umständen Krankenkassen Leistungen übernehmen müssen, die nicht zum anerkannten Leistungskatalog gehörden. Das Gericht stellte dabei zwar nicht auf die Menschenwürde ab, wohl aber auf den individuellen Anspruch auf Beachtung der Sozialstaatlichkeit, zu der nach Auffassung des Gerichts auch gehöre, in bestimmten lebensbedrohlichen Erkrankungen auch nicht anerkannte Außenseitermethoden zuzulassen, wenn deren Erfolg nicht vollkommen aussichtslos erscheint. Freilich schwingt bereits hier die Menschenwürde mit. Das Urteil beschreibt allerdings eine Ausnahmekonstellation. In aller Regel sehen die Leistungskataloge der Gesetzlichen Krankenversicherung medizinische Leistungen vor, die auch in Grenzsituationen medizinischem Standard entsprechen. Krankenkassen und die Menschenwürde – im Nikolaus-Beschluss schwingt sie sicher zwischen den Zeilen mit.
So griffen diese Grundsätze etwa nicht bei einer an übermäßiger Gesichtsbehaarung leidenden Frau, die die Übernahme einer Laserepilation begehrte (LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 18.02.2016, L 5 KR 226/15). Hier bestand beispielsweise die Möglichkeit der Kostenübernahme für eine Elektrokoagulation anstelle einer Laserbehandlung.
Krankenkassen und die Menschwürde: SG Dresden sieht eine Verletzung
Das Sozialgericht Dresden hat in einer Entscheidung (Urt. v. 09.10.2015, S 47 KR 105/13) geurteilt, dass die Trinkmenge einem Querschnittsgelähmten nicht vorgeschrieben werden dürfe, um mit einer bestimmten Menge an von der Kasse bezahlten Kathetern auszukommen, die der Querschnittsgelähmte für das Wasserlassen benötigt. Es verbiete sich, die Frage der Trinkmenge einer standardisierten Betrachtung zu unterziehen und daran die Leistungsübernahme anzuknüpfen.
Es liegt auf der Hand, dass es sehr weitgehend ist, wenn ein Sozialversicherungsträger zumindest mittelbar vorschreibt, wieviel am Tag getrunken werden darf. Das Bedürfnis nach Nahrung und Wasser ist höchst individuell. Es überzeugt, dass in derartigen Vorgaben eine Verobjektivierung des Menschen zu betrachten ist. Allein die Kontrollüberlegung aus anderen Bereichen zeigt dies auf, etwa in Hinblick auf unerlaubte Vernehmungsmethoden nach der StPO. Die Krankenkassen und die Menschenwürde standen hier in Konflikt, selbst wenn nur eine mittelbare Restriktion der Trinkmenge durch die Kassen erfolgte: Wann jemand Durst hat und trinken möchte, ist und bleibt eine individuelle Entscheidung. Das gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass der Grund für die Rationierung der Blasenkatheter hier keine medizinischen, sondern allein wirtschaftliche Gründe hatte. Die Entscheidung überzeugt, soweit ihr Inhalt aus der Pressemitteilung ersichtlich ist.
Fazit: Ein Menschenwürdeverstoß ist ein schwerer Vorwurf, der selten greift – anwaltliche Hilfe ratsam
Auch Krankenkassen beachten die Menschenwürdegarantie in aller Regel und verwirklichen in vielen Fällen überhaupt erst ein menschenwürdiges Leben; Verstöße sind eine Ausnahme. Wenn derartige Probleme dennoch auftreten, sind sie umso beachtlicher und erregen Aufmerksamkeit. Im konkreten, eigenen Streitfall kann es sinnvoll sein, einen Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen. Unsere Kanzlei hat neben medizinrechtlicher Expertise auch Fachwissen im öffentlichen Recht, zu dem auch die Grundrechte zählen. Eine Zwischenstellung nimmt hier ohnehin das Krankenversicherungsrecht als Teil des Sozialrechts ein. Gerne helfen wir auch Ihnen.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Es ist völlig klar und unstrittig, dass bei mehreren Alternativen zu einer erfolgversprechenden Behandlung diejenige ausgewählt werden wird, die am preiswertesten ist.
Diese Behandlungsalternativen gab es aber in dem Dresdner Katheter-Fall nicht. Entweder der Mensch hat die Katheter und Urinbeutel zum Wasserlassen zur Verfügung oder nicht. Wenn nicht, ist ein menschenwürdiges Wasserlassen nicht möglich.
Im Dresdner Fall hat sich die Krankenkasse folglich angemaßt, tief in die individuelle Lebensgestaltung und existenzielle Bedürfnisbefriedigung des Patienten einzugreifen.
Und es macht mich absolut fassungslos, dass auf Seiten der Kasse offensichtlich nicht einmal ein Fünkchen Gespür vorhanden ist, dass hier eine massive Übergriffigkeit vorliegt. Deswegen findet auch das Einlegen von Rechtsmitteln von Seiten der Krankenversicherung bei mir keinerlei Verständnis.
Gut, dass der Patient entsprechenden Widerstandswillen zeigte. Was macht aber ein nicht ganz so widerstandsfähiger und vielleicht auch leicht obrigkeitshöriger Mensch, der sich nicht zum Anwalt traut oder meint, ihn nicht bezahlen zu können. Nicht auszudenken!